Chance statt Schicksalsschlag
Chance statt Schicksalsschlag

Chance statt Schicksalsschlag

Chance statt Schicksalsschlag

Von einem halben Mann war in Wilster nichts zu merken

Er ist im Sitzen größer als viele Gäste seiner Lesung im Stehen. Sein Händedruck ist ein Prankenschlag und manche wünschen sich Beine von der Muskelkraft, wie Florian Sitzmann Oberarme hat. Von einem halben Mann – wie im Titel seines Buchs angekündigt – war bei der Lesung am 31. August in der Gemeinschaftsschule in Wilster nichts zu spüren. Vor dem Wilsteraner Publikum saß und las ein feiner und überaus sympathischer Mensch voller Energie und Lebensfreude.

Wenn eine falsche Entscheidung alles verändert

Zwei Meter lang wäre Florian Sitzmann heute, hätte es das Leben mit ihm am 31. August vor auf den Tag genau 31 Jahren nicht anders geplant. Da war er 15 Jahre alt und mit dem Motorrad und seinem besten Freund auf der Rückfahrt aus dem Urlaub unterwegs. Eine Dreiviertelstunde hatten sie noch vor sich, dann wären sie zuhause angelangt. Sitzmann saß hinten, sein Kumpel fuhr. Es war dunkel, es regnete in Strömen, die Sicht auf der Autobahn war schlecht und dann passierte es: Sie kamen aus der Spur. Von hinten rollte ein LKW heran und touchierte Sitzmann an der Schulter. Den Fahrer schleuderte der Aufprall Richtung Grünstreifen, er blieb unverletzt. Sitzmann hatte weniger Glück und landete unter dem rollenden Riesen. Rund 20 Tonnen Gewicht donnerten über seine Beine und sein Becken hinweg. Er erzählt das vor Kameras und bei seinen Auftritten immer wieder fast wortgetreu und vermutlich sehr viel weniger dramatisch, als es sich für ihn angefühlt haben muss.

Kein Mann von Übertreibungen

Ja überhaupt ist Florian Sitzmann ein Mensch, der nicht zu Übertreibungen neigt. Im Gegenteil: Mit ruhiger und von leichter Heiterkeit bestimmter Stimme erzählt der Mann von seinem Unfall, von der Lebensgefahr, von der Zeit nach dem Aufwachen aus dem Koma, von dem Augenblick, als ihm sein Vater von den amputierten Beinen erzählt und von den vielen darauffolgenden Operationen, als sei das alles kaum der Rede wert und lediglich die Vorgeschichte zu dem, was wirklich zählt: Seinem neuen Leben. Als habe es all dessen bedurft, um zu werden, wie und wer er ist, ein glücklicher und zufriedener Mensch.

Mit sich und seinem Leben im Reinen

Das Publikum erlebte einen Menschen, der mit sich und seinem Leben im Reinen scheint. Einen, der angenommen hat, woran andere verzweifeln. Einen, der geschafft hat, was man sich für die eigene Vita wünscht: Das Beste aus dem zu machen, was einem das Leben schenkt. Und vielleicht sogar noch viel mehr.

Der Sitzmann bewegt – nicht nur auf dem Buchcover

Der Sitzmann bewegt, das ist keine Phrase: Die Gemüter im Publikum. Und sich selbst in einer natürlich wirkenden Einheit mit dem Rollstuhl, mit dem er ständig in Bewegung ist. Man kann sie spüren und sehen, seine Energie, seine Power und seine Lebensfreude. Und immer wieder blitzt der pure Schalk durch, wenn er mit seinen Gästen interagiert, sie aus der Reserve lockt, sie auffordert, Fragen zu stellen und sie neckt in seiner lockeren Art, mit seiner Behinderung umzugehen. Wobei man das Wort „Behinderung“ eigentlich kaum schreiben mag, denn der Mann steht für vieles, aber nicht dafür, sein Leben als Behinderung zu begreifen, gar Mitleid erwecken zu wollen oder über Probleme zu philosophieren.

Viele sprechen von einem Schicksalsschlag, ich aber von einer zweiten Chance!

Florian Sitzmann

Und so lautet auch die Widmung für Tochter Emely in seinem Buch: „Vermute und entdecke in jedem Tag den schönsten deiner Zeit – sollte das Leben auch noch so schwierig sein.“ Ein Satz, den man jemandem wie ihm gerne glauben mag, auch wenn er erstmal klingt wie ein Vers in einem Poesiealbum.

Offen für Fragen, auch für ganz persönliche

Knapp drei Stunden und in kurzweiliger Atmosphäre las und erzählte Florian Sitzmann aus seinem Buch und seinem Leben. Er beantwortete gern und offen die vielen Fragen aus dem Publikum, darunter auch recht private wie die nach seinem Beziehungsleben.
Seit 2002 ist Florian Sitzmann außerdem erfolgreich als Handbiker und mit mehreren Titeln als Deutscher Meister, einer WM-Silbermedaille und der Teilnahme an Paralympics unterwegs.
Für den guten Zweck radelte er von Hamburg nach Grainau bei Garmisch, 960 Kilometer quer durch die Republik für „Miles for Hope“, um Spenden zu sammeln für eine Stiftung, die Kindern zugutekommt. Er spielt Tennis, Golf und segelt, fährt gerne schicke und schnelle Autos. Und liebt sein Leben, wie es ist.
Sitzmann ist Vater von drei Kindern, geschieden und wieder verheiratet. Seine zweite Ehe verdankt er Howard Carpendale. Wie aus einer Begegnung am Rande einer Talk-Show eine Freundschaft zwischen ihm und dem Schlagerstar wurde, mit dieser Geschichte ging dann auch der unterhaltsame Abend zu Ende.

Mutmacher

Da will einer anderen Menschen Mut machen und sie motivieren. Und genau das gelingt ihm auch! Wobei man ihn allzu gern auch mal aus der Reserve locken möchte. Vielleicht mit der ketzerischen Frage nach dem Haken hinter all dem, was so ideal erscheint. Aber, selbst wenn es diesen Haken gäbe, geriete man da bei Florian Sitzmann wohl an den Falschen. Er sei froh, sagt er seinem Publikum, dass der Unfall geschah, als er noch so jung gewesen war. Und dass die Weichen für sein Leben noch nicht gestellt waren. Seine Kraft ziehe er aus seinem Umfeld, seiner Familie, seinen Freundschaften und ja, auch aus sich selbst.

Florian Sitzmann betreibt eine Webseite „Der halbe Mann – voll im Leben“, schreibt an seinem nächsten Buch und war hoffentlich nicht zum letzten Mal zu Gast in der Wilstermarsch, da sind sich der Autor und Birgit Böhnisch, 1. Vorsitzende von Leselust Wilster e.V., einig.

Florian Sitzmann zwischen Karin Labendowicz (li) und Birgit Böhnisch (re). Foto: Heike Pohl

Und so geht es bei Leselust weiter – im Oktober ist Krischan Koch zu Gast

Die nächste Lesung findet am 18. Oktober 2023 statt. Dann werden Krischan Koch und sein „Schnappt Scholle“ zur Lesung in Wilster erwartet. Altganove Hans–Peter Scholz, genannt „Scholle“, plant mit seinen früheren Bandenmitgliedern den letzten großen Coup seines Lebens. Doch anstelle des Casinos Travemünde wird es die Raiffeisenbank in Schlütthörn. Und schon hat Polizeihauptmeister Detlefsen seinen nächsten Mordfall auf dem Tisch.

Krischan Koch liest ab 19:30 Uhr im Spiegelsaal des Neuen Rathauses. Bitte melden Sie sich telefonisch an unter 04823/921336.


Text und Bild: www.heikepohl.de
Pressetext S:hz/Norddeutsche Rundschau


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